Wir Ossis, mehr als nur jammern

Dieser Beitrag erschien zuerst im Magazin von Sachsen im Dialog im Sommer 2023.

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Sachsen im Dialog Magazin
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Ostdeutsche, das sind doch die Putin-Sympathisant:innen, die mit den gut gepflegten Ressentiments, der NSU und die Hooligans von der Faust des Ostens. Genau. Oder nicht? Was ist das nun also, die ostdeutsche Identität? Gibt es sie tatsächlich und wenn ja, welche Bedeutung hat sie in unserer heutigen Gesellschaft? Stärkt man in der Auseinandersetzung mit dieser Frage am Ende nur die politischen Ränder, oder ist es letztlich nicht viel zu gefährlich, diese Frage nur jenen zu überlassen, die Rechts- und Linksaußen in trüben Gewässern fischen?

In Hintergrundgesprächen mit Politiker:innen in Stadt und Land erfährt man, mit diesem Thema wollen sie sich nicht befassen, es würde aus ihrer Sicht doch nur die Falschen stärken. Aus Angst widmen sich also gewählte Parlamentarier:innen nicht den Fragen unserer eigenen Identität. Das ist in einem solchen Maße mutlos, dass es uns als Gesellschaft maximal beschämen muss. Anders als jene, sehe ich es als unabdingbar an, dass wir uns als ostdeutsche Gesellschaft auch mit unserer ostdeutschen Identität auseinandersetzen.

Was nun aber prägt die ostdeutsche Identität? Bis heute ist dies vor allem die Diktaturerfahrung, in all ihren im Nachhinein auch romantisch verklärten Facetten, sowie die Transformationsgeschichte der 90er Jahre. Schmerzhafte Brüche in Erwerbsbiografien, erfahrene Herabwürdigungen von Lebensleistungen sowie mangelnde Repräsentanz ostdeutscher Personen und Interessen innerhalb einer westdeutsch geprägten Gesellschaft im wiedervereinigten Deutschland. Objektiv erlittene und subjektiv empfundene Verletzungen führen bis heute zu teils tief sitzenden Ressentiments und zu einem im Bundesdurchschnitt wesentlich höheren Misstrauen gegenüber staatlichen Institutionen.

Darunter hat insbesondere das Vertrauen in die Selbstwirksamkeit von Personen und Interessengruppen in unserer ostdeutschen Gesellschaft gelitten. Während unsere Nachbar:innen im Osten Europas, die ebenso wie wir den Sozialismus überwanden, dessen Folgen aus eigener Kraft bewältigen mussten, ging der Blick in Ostdeutschland zu selten zu jenen Nachbarn, die dies erfolgreich schafften, sondern stets gen Westdeutschland. Viel zu häufig zählte in den letzten 30 Jahren nicht der Vergleich mit jenen, die mit gleichen Ausgangsvoraussetzungen in ein neues Zeitalter starteten, sondern stets zu jenen, die schon 40 Jahre in Freiheit und Marktwirtschaft leben und wirtschaften konnten. Viel zu häufig galt die Konzentration der Suche nach Anerkennung und Repräsentanz in westdeutsch geprägten Interessengruppen und Parteien statt der Stärkung der eigenen ostdeutschen Gesellschaft. Auch Protestparteien wie Die Linke oder die AfD vermochten hier nie einen wertvollen Beitrag zu leisten, da auch sie stets nur den Mangel an ostdeutscher Repräsentation in ganz Deutschland beklagten und nie zu einer Stärkung der ostdeutschen Gesellschaft führten. Ganz nebenher wird durch diese Protestparteien das nachhaltigste Erbe des Sozialismus weitergetragen: Der Antiamerikanismus.

Wir hatten 16 Jahre lang eine ostdeutsche Bundeskanzlerin und niemand hat es ihr angemerkt. Eine Kanzlerin, die auf dem grünen Hügel in Bayreuth stets mehr zu Hause war als beim Rudolstadt-Festival oder den Dresdner Musikfestspielen. Eine Kanzlerin, die erst in ihrer letzten Rede über ihre ostdeutsche Identität sprach. Wir erleben als ostdeutsche Gesellschaft etwas, das häufig anzutreffen ist: Erfolgreiche Menschen legen ihre Herkunft ab. Beispiele dafür finden sich in jeder marginalisierten Gruppe, umso wichtiger ist es, die existierenden Rollenvorbilder hervorzuheben. Konnte man vor einigen Jahren noch glauben, die Begleiterscheinungen des Glücks der Deutschen Einheit wären ein Generationenthema, welches sich auswächst, so wissen wir heute, dass sich Ressentiments und eingeübte Vorurteile innerhalb der deutschen Gesellschaft vererben. Es nützt also nichts, die Probleme auf Wiedervorlage zu setzen, wir müssen sie als Gesellschaft mutig und offen angehen. Der Blick darf sich nicht länger auf die Suche nach Anerkennung richten, wir benötigen die kritische Auseinandersetzung mit der Selbstwahrnehmung und den klaren Blick nach vorn!

Haben wir als Ostdeutsche verlernt, was Selbstwirksamkeit bedeutet? Verfügen wir noch über die Schaffenskraft, uns selbst aus dem mentalen Sumpf zu ziehen? Ja, wenn wir uns ein Beispiel an unseren Freunden in Tschechien oder Polen nehmen. Lassen Sie uns die ostdeutsche Identität mutig definieren und leben! Die Identität eines jeden Menschen ist stets im Fluss, die des Teils einer Gesellschaft erst Recht. Sie wird jeden Tag ein Stück weit neu geschaffen und ist niemals ausdefiniert. Unsere ostdeutsche Gesellschaft hat zweifellos besondere Eigenschaften und Talente, die besondere Lust am offenen Dialog ist dabei hervorstechend, genauso wie das fortwährende Ringen um die Freiheit und deren Definition, wir machen es uns nicht leicht und das ist gut so.

Packen wir also Politiker:innen, die sich ihrer ostdeutschen Wurzeln kaum noch bewusst sind, bei der Ehre. Bauen wir ostdeutsche Elitenförderung, bauen wir ostdeutsche Netzwerke, bauen wir das starke Ostdeutschland in der Mitte der Gesellschaft. Raus aus den linken und rechten Schmollecken des Landes, machen wir uns mutig auf die Suche nach dem ostdeutschen “mir san mir”.

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